Meine undankbaren Eltern

Mein höchstes Gebot, welches ich nie zu missachten wagen würde, ist die Höflichkeit. Schon immer handelte ich nach dieser von mir selbst auferlegten Weisung, ich beherrschte schon als Bébé jede Anstandsregel und war der tugendhafteste Embryo, den es je gegeben hat.

Als meine Geburt kurz bevorstand, realisierte ich mit Schrecken, dass zu jedem Besuch bei geehrten Gastgebenden ein angemessenes Mitbringsel zu überreichen ist. Fieberhaft überlegte ich, welche Gabe Freude auslösen und meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen würde. Meine Mittel waren beschränkt, ich hauste zu dieser Zeit in einem engen Einzimmerbauch, der, obwohl er über keine Fenster verfügte, in Sachen der Gemütlichkeit nicht überboten werden konnte. Ich schaute mich um, dachte nach und stellte fest, dass es kein Geschäft in der Nähe gab, in welchem ich mir eine Kleinigkeit hätte beschaffen können. In der Not entschied ich mich für meine heiss geliebte Plazenta, die ich nur ungerne hergab, aber die Vorstellung, unhöflich zu sein, liess mich noch mehr erschaudern.

So kam es, dass ich in der Nacht von Oktober auf November das Licht der Welt erblickte und mit einer Abschiedsträne im Auge meine Plazenta, die ich mehr achtete als mich selbst, in grosser Ehrfurcht meinen Eltern überreichte. Diese wussten meine Gabe allerdings nicht zu schätzen. Sie würdigten das Geschenk kaum und richteten ihre ganze Aufmerksamkeit nur auf mich.

Der Höhepunkt meiner Enttäuschung wurde erreicht, als meine Eltern das Mitbringsel einige Tage später im Wald begruben. Nie wieder verschenke ich eine Plazenta.