Die Winterlinde

Für meinen Papa, Februar 2022

Die greise, weise Winterlinde                
steht würdevoll auf einem Hügel
bewegt im sanften Frühlingswinde
die Äste gleich wie schwere Flügel

Von Doldentrauben, gelb und fein        
strömt ein würziger Honigduft,             
über das Land in die Welt hinein,
liegt lieblich milde in der Luft

Bei besonders schönem Wetter
kommt ein kleines Kind vorbei,
blickt blinzelnd in die grünen Blätter
und flüstert Worte leis’ dabei

Dass die Linde schon manche Dekaden,
ja Jahrhunderte auf der Erde verbracht,
zeigt sich an einem erheblichen Schaden,
der ihr Gehör fast untauglich macht

So bückt sie jeweils traurig den Ast
möglichst tief runter zum Grunde
und erhofft sich, zu verstehen, den Gast,
das Flüstern aus seinem Munde

Wenn die Bienen im Dämmerlicht
verschwinden für eine Ruhepause,
flattern Falter für ihre Schicht
ins Blütenmeer zum Nektarschmause

Ein Falter der Nacht fliegt hin zur Linde,
und grüsst mit seinem wachen Gesicht
Er fragt, wie sie sich denn befinde,
worauf sie eine Bitte spricht

Nickend setzt sich das Insekt
auf einen Zweig, so wie besprochen
wartet bis der Baum es weckt,
wenn der Tag ist angebrochen

Als der Baum das Kind entdeckt
grinst er voller Zuversicht
Rasch ist der Falter aufgeweckt,
zu hören, was das Wesen spricht

Sobald das Kind ist fortgegangen
fliegt der Falter nah ans Ohr
des Baumes um gleich anzufangen
mit dem Bericht der Red’ zuvor

Die Winterlinde strahlt erfreut,
hält dankend ihres Helfers Hand
und denkt, wie hätte sie’s bereut
wär ihr das Flüstern unbekannt

Bei des Geschöpfes Folgeerscheinen,
denkt sie an die Worte wieder,
und wirft das Schönste ihrer feinen,
herzförmigen Blätter zum Kinde nieder.